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Schadet zu viel Hygiene der Mikrobiota?

Im Laufe der letzten Jahrhunderte, Jahrzehnte und sogar Monate ist die Hygiene der Menschen gestiegen. Und das liegt nicht nur an Hygienemaßnahmen wie Händewaschen und Einsatz von Desinfektionsmitteln zu Zeiten einer Pandemie, sondern an einer angestiegenen Verwendung von Seife sowie dem vermehrten Einsatz von Antibiotika. Aber auch unsere Ernährung ist „hygienischer“ geworden. Es wird durchgegart, haltbar gemacht und abgekocht. Viele Experten und Expertinnen gehen davon aus, dass die Folge dieser Hygienemaßnahmeneine eine sinkende Biodiversität der Mikrobiota sei.

Die Hygienehypothese

Definition

Die Hygienehypothese postuliert, dass unter dem Einfluss der stark wechselnden Umgebungsbedingungen der vergangenen Jahrzehnte Krankheiten wie Allergien und Autoimmunerkrankungen, aber auch chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (CED) zunehmend häufiger auftreten.

Die Hygienehypothese erklärt epidemiologische Befunde im Kontext von evolutionärer Adaptation, genetischer Prädisposition und entzündlichen Immunreaktionen durch einen veränderten Lebensstil (weniger Kontakt zu Nutztieren, Rauchen), verbesserte sanitäre und medizinische Maßnahmen (Nutzung von Antibiotika und Anthelminthika) sowie Veränderungen in der Ernährung (Stillen, Fast Food). (Prof. Dr. S. Koletzko, H. H. Uhlig; 2010 (2))

Hygiene/Biodiversität-Hypothese

Die Hygiene- bzw. Biodiversität-Hypothese besagt, dass die Entwicklung der Darmmikrobiota, vor allem beim Heranwachsen, einen Einfluss auf die Ausbildung von Allergien und Autoimmunerkrankungen hat. Einfach gesagt: Je diverser die Darmmikrobiota, umso seltener leiden Menschen später an Allergien oder Autoimmunerkrankungen. Eine Studie von Depner et al., die 2020 in der Nature Medicine veröffentlicht wurde, zeigt, dass Kinder, die auf dem Bauernhof aufwachsen, seltener Asthma entwickeln, als Kinder aus der Stadt.

Die Arbeitsgruppe führt diesen schützenden Effekt auf die vielfältigere mikrobielle Umgebung und dem daraus resultierenden Einfluss auf die Darmbakterien bzw. deren Produktion von Stoffwechselprodukten, wie kurzkettigen Fettsäuren zurück. Eine Rolle scheint dabei die Reifung der intestinalen Mikrobiota im ersten Lebensjahr zu spielen, was die Forschenden anhand von Stuhlproben ermittelten. (1)

Traditionelle Ernährung vs. heutige Ernährung

Beleuchtet man die Unterschiede in der Ernährung unserer Vorfahren im Vergleich zu der Ernährung von heute, fallen einige Punkte auf, die sich auf die Zusammensetzung der Darmmikrobiota auswirken können. Die traditionelle Ernährung bestand zu einem höheren Anteil aus pflanzlichen Nahrungsmitteln und war reich an Ballaststoffen und Mikroorganismen. Besonders durch die Haltbarmachung von Lebensmitteln mittels Fermentierung wurde die Biodiversität der intestinalen Mikrobiota gefördert. Lebensmittel wurden frisch zubereitet und häufig auch roh in Form von Rohgemüse, Kräutern oder Obst konsumiert. Heute werden Lebensmittel überwiegend industriell verarbeitet und dadurch „hygienisch sicher“ länger haltbar gemacht.

Der Anteil an pflanzlichen Lebensmitteln ist geringer und es sind weniger Ballaststoffe und Mikroorganismen in unserem Essen. (3) Die Arbeitsgruppe von Marco et al. empfiehlt in einem Artikel in The Journal of Nutrition (2020) die Aufnahme von lebenden Mikroorganismen. Dies wiederum kann die Biodiversität der Mikrobiota fördern und somit das Immunsystem bzw. den Gesundheitsstatus der Menschen stärken. Die Abbildung zeigt den Einfluss verschiedener Ernährungsformen auf die Mikrobiota und Gesundheit. (4)

Hygienemaßnahmen und die Mikrobiota

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Regelmäßiges Händewaschen oder Desinfizieren sowie „Social Distancing“ sind Teil unseres Alltags geworden und haben großen Einfluss auf die Darmmikrobiota und damit langfristige Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit. Die Corona-Pandemie überschneidet sich mit einem jahrzehntelangen Rückgang der mikrobiellen Vielfalt aufgrund von Hygiene, Antibiotika und urbanem Leben, wie wir es bereits in einem anderen Blog-Artikel beschrieben haben.

Eine aktuelle Veröffentlichung von Finlay et al. (2021) beschäftigt sich genau mit dieser Problematik. Die Autoren betonen, dass natürlich oberstes Ziel sein muss, die Pandemie einzudämmen. Die Maßnahmen, die dafür nötig sind, zusammen mit der bereits bestehenden Entwicklung des globalisierten Lebensstils, können allerdings negative Folgen für die Darmgesundheit mit sich bringen. Die Biodiversität sinkt und damit auch die Anzahl an gesundheitsfördernden Mikroorganismen. Wichtig sei es, eine Balance zu finden, die der Entwicklung einer modernen Gesellschaft und einer gesunden Darmmikrobiota gerecht wird. (5)

                              

Quellen

  1. Depner, M., Taft, D.H., Kirjavainen, P.V. et al. (2020): Maturation of the gut microbiome during the first year of life contributes to the protective farm effect on childhood asthma. Nat Med 26/2020, Pages 1766–1775, https://doi.org/10.1038/s41591-020-1095-x

  2. Koletzko S., Uhlig H.H. et al. (2010): Hygienehypothese: Schlüssel zur Ätiologie und Pathogenese von CED? Monatsschrift Kinderheilkunde. Ausgabe 8/2010, https://www.springermedizin.de/hygienehypothese-schluessel-zur-aetiologie-und-pathogenese-von-c/8048704

  3. Groeneveld M. (2021): „Reizdarmsyndrom: Behandlungsoptionen ganzheitlich betrachtet“. Medcram Live-Fortbildung vom 20. April 2021, https://scienceforhealth.de/reizdarmsyndrom-ganzheitlich-betrachten-und-individuell-beraten/

  4. Marco M.L. et al. (2020): Should There Be a Recommended Daily Intake of Microbes?, The Journal of Nutrition, Volume 150, Issue 12, December 2020, Pages 3061–3067, https://doi.org/10.1093/jn/nxaa323

  5. Finlay B.B. et al. (2021): The hygiene hypothesis, the COVID pandemic, and consequences for the human microbiome. PNAS February 9 2021, Pages 118, https://doi.org/10.1073/pnas.2010217118