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„Wenn der Darm mitentscheidet: Mikrobiom und Magersucht im Fokus der Forschung“

 Das Darmmikrobiom steht seit einigen Jahren im Fokus der Forschung zu psychischen Erkrankungen, darunter auch Essstörungen. [1] Aktuelle Studien legen nahe, dass mikrobielle Dysbiosen nicht nur Folge, sondern potenziell auch Mitverursacher anorektischer Symptomatiken sein könnten. In diesem Beitrag erfahren Sie aktuelle Erkenntnisse und Therapieansätze

Anorexia nervosa – was ist das?

Der Begriff „Essstörungen“ umfasst eine Reihe von psychischen Erkrankungen, die durch eine Störung des Essverhaltens gekennzeichnet sind. Die wohl bekannteste Form ist die Magersucht – auch als Anorexie oder Anorexia nervosa (AN) bezeichnet. Sie ist eine schwerwiegende und meist langwierige Erkrankung, die vor allem – aber nicht nur – im Jugendalter auftritt. Essstörungen gelten häufig als typische Frauenkrankheit, doch auch Jungen und Männer können betroffen sein. [2]

Laut einer aktuellen Hochrechnung der KKH Kaufmännische Krankenkasse wurde im Jahr 2023 in Deutschland bei fast 460.000 Menschen eine Essstörung diagnostiziert. 7,5 Prozent davon waren Mädchen zwischen zwölf und 17 Jahren. In dieser Altersgruppe ist ein besonders starker Zuwachs während der Coronapandemie zu verzeichnen: Von 2019 auf 2023 stiegen die Fallzahlen um fast 50 Prozent. [3] Betrachtet man die Magersucht allein, erkranken im Laufe eines Lebens von 1.000 Mädchen und Frauen etwa 14 an Magersucht und etwa 2 bei Jungen und Männern. [4]

Die Entstehung der Magersucht lässt sich nicht auf eine alleinige Ursache zurückführen. Vielmehr wirken verschiedene Umstände bei der Entstehung zusammen, wie genetische, psychische und Umweltfaktoren. [5] Schönheitsideale, die in sozialen Medien verbreitet werden, sind besonders bei Mädchen in der Phase der Pubertät als wesentlicher Einflussfaktor zu sehen. [2]

Menschen, die an Magersucht leiden, sind stark auf ihr Körpergewicht fixiert: Es soll möglichst niedrig sein. Dafür schränken sie ihre Energiezufuhr drastisch ein und sind körperlich sehr aktiv bzw. treiben häufig intensiv Sport, um möglichst viele Kalorien zu verbrauchen. Trotz objektiv bestehenden Untergewichts erleben sie sich selbst als zu dick oder unförmig. Diese gestörte Körperwahrnehmung und die ausgeprägte Angst vor Gewichtszunahme führen zu einer rigiden Kontrolle der Nahrungsaufnahme. Die daraus resultierende Mangelernährung wirkt sich negativ auf Organe und Organsysteme aus, wie z.B. auf den Hormonhaushalt und die Knochen. Bei der AN treten häufig zusätzlich weitere psychische Erkrankungen auf, vor allem Depression, Angststörung oder Zwangserkrankungen.

Darmmikrobiom unter Magersucht verändert

Untersuchungen haben gezeigt, dass sich das Darmmikrobiom von AN-Betroffenen von dem gesunder Personen unterscheidet. Ob diese Veränderungen eine Folge der krankheitsbedingten Mangelernährung und Lebensweise sind oder ob sie an der Pathophysiologie der Erkrankung beteiligt sind, ist bislang nicht abschließend geklärt.

Schaut man sich das typische Ernährungsprofil von Menschen mit AN an, fällt neben der geringen Aufnahme an Makro- und Mikronährstoffen eine in Relation zur Energiezufuhr hohe Aufnahme an Ballaststoffen auf. Dieses Ernährungsmuster hat Einfluss auf die Zusammensetzung der Darmbakterien. [6] Auffallend ist dabei u.a. eine verringerte Anzahl an Butyrat-produzierender Bakterien als Merkmal der Darmmikrobiota bei AN.  Zhao et al. sehen eine der möglichen Ursachen in der verminderten Zufuhr an Makronährstoffen. [7] Eine weitere konsistente Veränderung in der Zusammensetzung des AN-Mikrobioms ist die Zunahme von bestimmten Bakterienstämmen (Methanobrevibacter smithii), die besonders gut auf Mangelsituationen angepasst sind. [7]

Die Tatsache, dass Mikrobiota-Veränderungen auch bei AN-Betroffenen ohne starkes Untergewicht beobachtet wurden, spricht für deren mögliche Bedeutung in der Pathophysiologie der Erkrankung. [7] Es gibt eine Hypothese, dass bei prädisponierten Personen ein Gewichtsverlust Magersucht auslösen kann, wenn er zu Veränderungen in der Darm-Hirn-Achse führt. Dabei spielt es keine Rolle, ob der anfängliche Gewichtsverlust freiwillig durch eine Diät oder durch somatische oder psychiatrische Erkrankungen verursacht wurde. [8] Wie passt das alles zusammen?

Wie sich Darmmikrobiom und Erkrankung wechselseitig beeinflussen

Klar ist, dass die Darm-Hirn-Achse ein bidirektionales Kommunikationssystem ist, bei dem Signale zwischen dem Darm und dem Zentralen Nervensystem ausgetauscht werden. Die Darmmikrobiota kann diese Achse modulieren, indem sie neuroaktive Verbindungen produziert, die die Gehirnfunktion und das Verhalten beeinflussen. [6] So kann die Darmmikrobiota eine Rolle bei der Appetitregulierung spielen, indem sie Signale abgibt, die Hunger und Sättigung beeinflussen. Auch die Lebensmittelpräferenzen einer Person können so verändert werden. [6] Es wird des Weiteren diskutiert, dass z.B. Darmbakterien die Produktion von Neurohormonen regulieren, die an der Stimmung beteiligt sind. [7]

Die oben beschriebene Veränderung der Darmmikrobiota reduziert die Bildung von kurzkettigen Fettsäuren (SCFAs) – mit weitreichenden Folgen für den Organismus. Denn SCFAs erhalten die Integrität der Darmbarriere, fördern die Rekrutierung von Immunzellen im Darm, beeinflussen die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke, erhöhen die Insulinsensitivität und steigern die Produktion von Entzündungsmediatoren. [7] All diese Effekte können die Folgen der Magersucht für den Organismus verstärken.

Therapeutische Überlegungen und Einsatz von Probiotika

Die Behandlung der Magersucht erfolgt heutzutage vor allem mit psychotherapeutischen Interventionen. Ziel ist es, dass Ernährungsverhalten zu normalisieren, ein gesundes Körpergewicht wiederherzustellen und die körperlichen Folgen der Mangelernährung zu überwinden. Bisherige Studien machen deutlich, dass eine Gewichtszunahme nicht automatisch zu einer Normalisierung der Darmmikrobiota führt. Auffällig bleiben erhebliche Unterschiede in der Diversität. [7] Diese Erkenntnisse legen nahe, bestehende Therapiekonzepte durch eine gezielte Ernährungstherapie zu ergänzen, die über die reine Gewichtszunahme hinausgeht und die Modulation des Mikrobioms gezielt mit einbezieht.

Ein therapeutischer Ansatz ist die Gabe von Prä- und Probiotika. Erste Studien zeigen positive Effekte von Probiotika bei AN auf die Immunmodulation. [9] Andere Studien belegen den positiven Einfluss einer Probiotika-Gabe u.a. auf die Regulation der Nahrungsaufnahme und die Stimmung. [10] Ein Forschungsansatz zielt darauf ab, durch Probiotika gezielt die Produktion bestimmter Neurotransmitter in der Darmmikrobiota zu beeinflussen, insbesondere Serotonin und Gamma-Aminobuttersäure (GABA), um Störungen an der Darm-Hirn-Achse zu beheben. Besonders Lactobacillen zeigten hier erste positive Effekte. Zusätzlich könnte die Verabreichung von Probiotika bei AN zur Normalisierung der Mikrobiota und zur Verringerung von Entzündungen und Darmbeschwerden beitragen. Probiotika, die Bifidobakterien und Lactobacillen enthalten, zeigten dabei besonders positive Auswirkungen. [6]

Darüber hinaus gibt es Hinweise auf den therapeutischen Nutzen von Probiotika bei Depressionen und Angstzuständen, die häufig als Komorbiditäten bei AN auftreten. [9] Lesen Sie dazu auch den Blogbeitrag „Depressionen und Magen-Darm-Beschwerden: Was bewirken Probiotika?“

Ausblick

Aktuelle Studien prüfen neue Behandlungsansätze bei AN, die das Darmmikrobiom gezielt modulieren. Die bisherigen Forschungsergebnisse sind vielversprechend. Gezielte Ernährungsempfehlungen in Verbindung mit Prä- und Probiotika könnten sich in Zukunft als geeignete Therapiebausteine erweisen.

Quellen

[1] Herpertz‑Dahlmann, B.; Seitz, J.; Baines,J.; Food matters: how the microbiome and gut–brain interaction might impact the development and course of anorexia nervosa. Eur Child Adolesc Psychiatry 2017, 26, 1031–1041. DOI 10.1007/s00787-017-0945-7

[2] Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG; Hrsg.): Essstörungen. https://www.bzga-essstoerungen.de/ (Zugriff am 25.06.2025)

[3] Pressemeldung der KKH vom 05.05.2025 https://www.kkh.de/presse/pressemeldungen/beautypolizei (Zugriff am 25.06.2025)

[4] Galmiche, M.; Dechelotte, P.; Lambert, G.; Tavolacci, M. P.; Prevalence of eating disorders over the 2000–2018 period: a systematic literature review. Am J Clin Nutr, 2019, 109, 1402–1413

[5] Herpertz, S.; Fichter, M.; Herpertz-Dahlmann, B.; Hilbert, A.; Tuschen-Caffier, B.; Vocks, S.; Zeeck, A.; S3-Leitlinie Diagnostik und Behandlung der Essstörungen. 2.2 Stand: 31.05.2018, gültig bis: 30.05.2023 (in Überarbeitung). https://register.awmf.org/assets/guidelines/051-026l_S3_Essstoerung-Diagnostik-Therapie_2020-03-abgelaufen.pdf (Zugriff am 25.06.2025)

[6] Anton-P´aduraru, D.-T.; Trofin, F.; Nastase, E. V.; Miftode, R. S.; Miftode, I.-L.; Trandafirescu, M. F.; Cojocaru, E.; Tarc˘a, E.; Mindru, D. E.; Dorneanu, O. S. The Role of the Gut Microbiota in Anorexia Nervosa in Children and Adults — Systematic Review. Int. J. Mol. Sci. 2024, 25, 41. https://doi.org/10.3390/ijms25010041

[7] Zhao, W.; Kodancha, P.; Das, S. Gut Microbiome Changes in Anorexia Nervosa: A Comprehensive Review. Pathophysiology 2024, 31, 68–88. https://doi.org/10.3390/pathophysiology31010006

[8] Frostad, S. Are the Effects of Malnutrition on the Gut Microbiota–Brain Axis the Core Pathologies of Anorexia Nervosa? Microorganisms 2022, 10,1486. https://doi.org/10.3390/microorganisms10081486

[9] Dhopatkar N, Keeler JL, Mutwalli H, Whelan K, Treasure J, Himmerich H. Gastrointestinal symptoms, gut microbiome, probiotics and prebiotics in anorexia nervosa: A review of mechanistic rationale and clinical evidence. Psychoneuroendocrinology. 2023 Jan;147:105959. doi: 10.1016/j.psyneuen.2022.105959. Epub 2022 Oct 21. PMID: 36327759

[10] Bahari, H., Akhgarjand, C., Mirmohammadali, S.N. et al. Probiotics and eating disorders: a systematic review of humans and animal model studies. J Eat Disord 12, 193 (2024). https://doi.org/10.1186/s40337-024-01143-4