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Leaky Gut: Mythos oder Krankheitsbild?

Beim 30. VFED-Online-Kongress unterstützte die Yakult Wissenschaftsabteilung den Verband für Ernährung und Diätetik e.V. am 16. September 2022 mit einem Vortrag von Frau Dr. oec. troph. Maike Groeneveld zu einem aktuellen und spannenden Thema: „Die Darmbarriere – ein vulnerables System. In diesem und einem folgenden Blogbeitrag berichten wir über Inhalte und Studien, die die Referentin im Rahmen ihres Vortrages vorstellte.

Wir gehen der Frage nach, ob es sich beim vielfach von Fachkreisen und Medien aufgegriffenen Leaky GutSyndrom um ein valides Krankheitsbild oder eher um einen Mythos handelt.

Faktencheck: Darmbarriere und „Leaky Gut“

Das Ergebnis einer Google-Suche mit über neun Millionen Hits offenbart, dass der Begriff Leaky Gut ein derzeit sehr gefragtes Themenfeld istINetz verfügbare Diagnosebeschreibungen, Symptomaufzählungen und mutmaßlich assoziierte Krankheitsbilder weisen auf gravierende Auswirkungen auf den Organismus und die Gesundheit hinAuch bei der Suche nach möglichen Behandlungsmethoden stoßen Suchende auf zahlreiche Bücher und Veröffentlichungen sowie Produkte, die eine Milderung der Symptomatik oder gar eine Heilung versprechen. 

Es stellt sich unweigerlich die Frage, was aus wissenschaftlicher Sicht zur Diagnose und Behandlung eines „Leaky Gut“ vertretbar und beweisbar ist. Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, beleuchtete Frau Dr. Groeneveld in ihrem Vortrag zunächst die wissenschaftliche Definition der intestinalen Barriere.

Sie beschrieb sie als funktionelle Einheit, welche das Darmlumen vom Körperinneren trennt. So hat sie die Aufgabe, einerseits Nährstoffe durchzulassen, und andererseits „Schädliches“ abzuwehren. Um die Durchlässigkeit des Darms darzustellen, ging die Referentin im Folgenden ausführlich auf die anatomischen Besonderheiten der intestinalen Barriere ein und führte die vier physiologischen Transportwege durch das Darmepithel (siehe Infokasten) auf. Hierzu stellte sie abschließend die Frage: „Es ist also physiologisch und auch lebensnotwendig, dass der Darm in gewisser Weise durchlässig ist, aber ab wann ist es krankhaft?“

Was sind Transportwege durch das Darmepithel:

  1. Transzellulär: Kleine Verbindungen und Ionen gelangen über passive Diffusion in die Zellen.
  1. Parazellulär: Größere und kleinere Verbindungen werden zwischen den Zellen über die Tight Junctions hindurchgeschleust. Tight Junctions sind schmale Bänder aus Membranproteinen, welche den Zwischenraum zwischen den einzelnen Epithelzellen mehr oder weniger dicht verschließen.
  1. Transzellulär:Aktiver Transport von Nährstoffen, wie Zucker, Vitaminen und Aminosäuren durch die Epithelzelle.
  1. Endo- und Exozytose: Größere Komplexe, wie Bakterien und deren Bestandteile, Proteine oder größere Peptide werden mit einer Membran umschlossen ins Zellinnere geschleust.

Intestinale Permeabilität: Verfahren zur Messung der Durchlässigkeit

Um die Durchlässigkeit der Darmwand zu messen, existieren derzeit verschiedene Tests: Neben der Ussing-Kammer, einer elektrophysiologischen Messung, die die Transport- und Barrierefunktionen von lebendem Gewebe erfasst, gibt es den Permeabilitäts-Test, bei dem der Durchtritt definierter Substanzen durch die Darmwand ins Blut über deren Nachweis im Urin bestimmt wird.

„Der Goldstandard ist der Lactulose-Mannitol-Test, auch Lac:Man-Test genannt, der in vielen wissenschaftlichen Studien als Messmethode angewendet wird. Hier wird das Verhältnis von Mannitol, das als kleines Zuckeralkoholmolekül transzellulär resorbiert wird, und Lactulose, das als größeres Disaccharid parazellulär durch die Tight Junctions ins Blut gelangt, vor und nach dem Trinken einer Lactulose-Mannitol-Lösung im Urin bestimmt“, erklärte Frau Dr. Groeneveld. „So erhält man eine ziemlich gute Vorstellung von der Situation im Darm. Denn der Transportweg, über den eine höhere Durchlässigkeit stattfindet, ist die parazelluläre Resorption durch die Tight Junctions. Genau hier gelangen größere Moleküle durch die intestinale Barriere nach innen. Dennoch muss auch bei diesem Test berücksichtigt werden, dass Referenzwerte fehlen und gewisse Probleme bei der Standardisierung der Ergebnisse bestehen. Etwa wenn man davon ausgeht, dass alle Teilnehmenden ihren Urin über einen festgelegten Zeitraum sammeln müssen.“ (1)

Dieser Test bildet die Grundlage für eine aktuelle Untersuchung im Rahmen einer Studie, die im Jahr 2021 von Seethaler et al. publiziert wurde. (2) Ziel der Untersuchung mit 51 gesunden normalgewichtigen sowie 27 übergewichtigen Personen (n=78) war es, geeignete Biomarker zur Bestimmung der Permeabilität zu validieren. Die Gruppe hatte bereits in früheren Studien gezeigt, dass die Permeabilität des Darms mit dem Körpergewicht zusammenhängt. (3Das Besondere in der aktuellen Studie bestand darin, dass alle Biomarker-Ergebnisse mit den Ergebnissen parallel durchgeführter Lac:Man-Tests verglichen wurden. Als Biomarker wurden Lipopolysaccharide-Bindungs-Proteine (LBP) und Zonulin festgelegt. Untersucht wurde die Korrelation der Ergebnisse der Lac:Man-Tests mit den Nachweisen von LBP im Blut sowie Zonulin im Stuhl.

Modifiziert nach Seethaler et al. 2021.

Die Studie ergab, dass LBP über alle Untersuchungsgruppen hinweg mit dem Lac:Man-Test korrelierte. Das Zonulin war jedoch nur im Stuhl der Übergewichtigen erhöht, womit eine Korrelation mit dem Lac:Man-Test bestand. Bei den Normalgewichtigen bestand hingegen keine Korrelation. Somit konnte mit den beiden gewählten Bio-Markern keine vollständige Korrelation zu den Ergebnissen des Lac:Man-Tests nachgewiesen werden.

Frau Dr. Groeneveld schloss ihre Ausführungen mit dem Fazit: „Die intestinale Barriere hat eine große Bedeutung. Dennoch rate ich Ihnen in Ihrer Beratungsarbeit davon ab, den Begriff ‚Leaky Gut‘ gegenüber ihren Patientinnen und Patienten zu erwähnen. Einerseits zeigt die erwähnte Studie, dass nach wie vor keine verlässlichen Bio-Marker existieren, um eine Durchlässigkeit der Darmbarriere als Krankheitsbild wissenschaftlich valide und sicher nachweisen zu können. Die Forschung steht hier erst ganz am Anfang, und es fehlen zudem Referenzwerte. Andererseits erzeugt dieser Begriff bei den Patientinnen und Patienten Unsicherheit und Angst, die durch die Informationsflut im Internet geschürt werden. Ich empfehle Ihnen vielmehr, eher von einer ‚gestörten Permeabilität‘ oder ‚Barrierestörung‘ zu sprechen.“

                              

Quellen

  1. Gan J et al. (2022): A case for improved assessment of gut permeability: a meta-analysis quantifiying the lactulose:mannitol ratio in coelic and Crohn’s disease. BMC Gastroenterology; 22(16), doi: https://doi.org/10.1186/s12876-021-02082-z  

  2.  Seethaler B et al. (2021): Biomarkers for assessment of intestinal permeability in clinical practice. Am J Physiol Gastrointest Liver Physiol321: G11–G17, doi: https://doi.org/10.1152/ajpgi.00113.2021 

  3.  Damms-Machado A et al. (2017): Gut permeability is related to body weight,fatty liver disease, and insulin resistance in obese individuals under-going weight reduction. Am J Clin  Nutr; 105:127–135, doi: https://doi.org/10.3945/ajcn.116.131110